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Liebe Leserinnen und Leser, wird nach der Viruskrise die Rückkehr zum „Status quo ante“ wieder möglich sein?

Robert Merle (franz. Schriftsteller, 1908 – 2004) wirft in seiner in eine Viruspandemie eingebettete Romanhandlung „Die geschützten Männer“ die gleiche Frage auf! In dem 1974 erschienenem Buch geht es um ein Virus, das ausschließlich Männer befällt, um die Suche nach einem Impfstoff, um die Rivalität zwischen Patriachat und Matriarchat, die Rückkehr zur Demokratie nach dem Ausnahmezustand und interessante Gedankenspiele um Macht und Einfluss.

Heute stellen sich zudem die Fragen zum Urbanisierungsdrang, zu uneingeschränkten Individualreisen, zur Vielzahl von Dienstreisen, zur Globalisierung der Produktion und des Handels, zu der Kommerzialisierung der medizinischen Versorgung.

Als Tierärzten sagen uns natürlich Begriffe wie Erregerpassagierung und -übertragung in großen, auf engem Raum gehaltenen Menschenpopulationen (z.B. auf Kreuzfahrschiffen und in Großschlachtbetrieben), Gefährdungen durch das Verbringen von Individuen mit unbekanntem Seuchenstatus über große Entfernungen sowie unzureichende Diagnostik und Überwachungsmöglichkeiten etwas. Glücklicherweise ist es in der Menschenpopulation lange gut gegangen!

Noch aber stecken wir alle mittendrin in der Krise. Amtstierärztliche Herausforderungen bestehen jedoch fort. Neben unzähligen Routineaufgaben sind aktuell insbesondere die Themen Ferkelkastration, Kastenstandhaltung, Massentierhaltung, Massenschlachtungen, Tiertransporte, Qualzuchten bei Nutztieren etc. zu nennen. Die Systemrelevanz des amtstierärztlichen Dienstes steht nicht in Frage – auch wenn sich Schwerpunkte verschoben haben. Die Lebensmittel- und Versorgungssicherheit basiert auch auf tierärztlichen Untersuchungen, Seuchen-Monitoring, Kontrollen und Zertifizierungen.

Basierend auf bismarckschen Sozialgesetzgebungen und ihren jeweils zeitgemäßen Weiterentwicklungen (u.a. der Pflegeversicherung des Norbert Blüm) stehen die Menschen in Deutschland in dieser Krise vergleichsweise gut abgesichert da. Natürlich sind die Einschränkungen enorm groß. Liebgewordene Gewohnheiten wie das Reisen, Feiern, Vereinsleben sind derzeit ausgesetzt. Das Alltagsleben in Beruf und Familie steht auf einer veränderten Basis!

Angesichts der gigantischen Schlachtstätten und deren nun auch epidemiologischen Stellenwertes in der Coronakrise ist vielleicht die Rückkehr zum Status quo ante doch in Frage gestellt. Mindestuntersuchungszeiten, konventionelle Fleischuntersuchung, durchgehend konsequente Überwachung und einfache Gebührenerhebung standen einfach der Effizienzsteigerung im Weg und wurden der Branche geopfert. Aber wie auch sonst wird es an politischem Entscheidungswillen fehlen. Die Ressortierung im BMEL (Ernährung und Landwirtschaft) zeigt schon namentlich die Prioritätensetzung an.

Grethe- und Borchertgutachten, nunmehr auch der Ethikrat zur Massentierhaltung, geben der Legislative den Entscheidungsauftrag zur Richtungsänderung in der Nutztierzucht und -haltung. Der Ethikrat fordert sogar die Sicherstellung von effektiven Kontrollmechanismen: „Insbesondere ist in dieser Hinsicht die Rolle der Amtstierärztinnen und Amtstierärzte zu stärken“.

Da könnte man als Amtstierarzt glatt Goethe aus Faust der Tragödie erster Teil zitieren: „Die Worte höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Schon 2011 hat der BbT in seiner Presseerklärung anlässlich des 30. Internationalen Veterinärkongresses die stärkere Berücksichtigung der Tiergesundheit in Zucht und Haltung gefordert – und wurde nicht gehört.

Bei der Rückkehr nach der 1. Phase der Coronakrise zu normalisierten – wenn auch veränderten Gegebenheiten – wird tierärztliche Expertise wiederum umso mehr dazu gehören müssen. Leider hat der One Health-Gedanke, zu der auch die Veterinärmedizin gehört, keinen Einzug in das Infektionsschutzgesetz gefunden. Da hat Lobbyarbeit auch an dieser Stelle eine Chance für die Gesellschaft verhindert.

Als Tierärzteschaft sind wir, um auf Robert Merle zurückzukommen, längst mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Nicht der Status quo ante sollte das Ziel sein, sondern eine Neuausrichtung, wie sie Niko Paech (*1960, deutscher Volkswirt) in seinem Essay zur Postwachstumsökonomie „Befreiung vom Überfluss“ beschreibt:
Abkehr vom Hamsterrad der materiellen Selbstverwirklichung, um vor der eigenen inneren Enge fliehen zu können – also Abkehr vom uneingeschränkten Wachstum: weniger arbeiten, weniger konsumieren und weniger reisen.

Herzlichst
Dr. Holger Vogel
Präsident Bundesverband der beamteten Tierärzte e. V.
Vereinigung der Tierärztinnen und Tierärzte im öffentlichen Dienst

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